Donnerstag, 2. Februar 2012

Das Jahr des Wulffs

Bildquelle: Bild.de
Wer das vor Weihnachten begonnene Theater um viele angebliche und wenige tatsächliche Verfehlungen des deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff verfolgt, das begierige Umherschnüffeln in präsidialen Wäschekorb und Leichenkeller, die scheibchenweise nachgelieferten Eingeständnisse und unklugen Abwehrbewegungen in einer allzu offensichtlichen Pressekampagne, was sich mittlerweile täglich gegenseitig vorwärts und abwärts zugleich treibt, der ahnt, dass uns das Thema noch lange verfolgen wird.

Mir geht es gar nicht um das, was der Bundespräsident heute oder früher tat. Die juristische Bewertung kann ich nicht leisten, die moralische Wertung steht mir als Christen nicht zu (das Gott zu überlassen haben schon die größten Heiligen stets empfohlen), meine persönliche Meinung über den Präsidenten ist so wenig aussagekräftig, wie subjektive Meinungen nun einmal sind und ob Christian Wulff im Amt bleibt oder zurücktritt kann mir hier in der Schweiz ohnehin weitestgehend egal sein.

Das Amt des deutschen Bundespräsidenten ist nicht erst durch die Affäre Wulff beschädigt, und wird auch kaum weiter durch sie zu beschädigen sein. Es war schon beschädigt, als die Kanzlerin gegen jede Vernunft und politische Klugheit ihren Kandidaten am populären Joachim Gauck vorbeiboxte, dessen Kandidatur die Christdemokraten früher selbst einmal vorgeschlagen hatten.

Wulff hatte von vornherein nicht die Statur, dieses Amt auszufüllen. Das bisschen Format, was er als Ministerpräsident hatte, ging durch die Ernennung von der Kanzlerin Gnaden auch noch verloren. Da fehlt es einfach an allem. Vermutlich ist das Amt des Bundespräsidenten aber schon vorher erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden, als der bis dahin standfeste und oft auch streitbare und -willige Horst Köhler quasi über Nacht hinwarf und zurücktrat. Sei es nun wegen der Kritik an seinen Afghanistan-Aussagen, sei es, weil man den profilierten Wirtschafts- und Finanzfachmann zur Unterschrift unter in Gesetz drängte, dass er nicht verteten konnte und wollte, sei es aus anderen Gründen, über die man nur spekulieren kann.

Was mich an der ganzen Sache irritiert, ist der Umgang der Presse damit. Gerne, allzu gerne, geben sich ihre Vertreter als die "vierte Macht" aus. Sei es wegen der Informationen, der Aktualität, der Objektivität, der Moral oder etwas anderem. Gerade die Affäre Wulff zeigt aber überdeutlich, dass nichts unzutreffender wäre, als dieser Anspruch.

Jedes Gerücht, jede Spekulation und jede böswillige Unterstellung wird nicht nur begierig aufgegriffen, sondern ohne Prüfung der Fakten gleich zur Schlagzeile des Tages. Besteht Journalismus schon länger auch in sogenannten Qualitätsmedien oftmals nur noch darin, Agenturmeldungen abzuschreiben, so schreiben Zeitungen mittlerweile ungeniert voneinander ab, auch, wenn der erste seine Agenturmeldung schon entstellt und die Fakten vollkommen versemmelt hat. Hinterher will es dann niemand gewesen sein. Der Unterschied zwischen redaktionell bearbeiteten Meldungen und Twitter-Postings wird immer geringer, seit die Qualität dem Tempo geopfert wurde.

Dass verschiedene Informationen gar nicht in Bezug zueinander gesetzt, abgewogen, überprüft und dann eingeordnet werden, überrascht schon längst nicht mehr. Statt Information zählt Meinung. Statt Fakten Empörung und Betroffenheit. Statt eine Übersicht zu schaffen, werden Stimmungsbilder gemalt.

Es ist wahr, dass Politiker und anderen Prominenten bestimmte Vergünstigungen und Vorteile zustehen, die an sich wohlbegründet und angemessen sind und oft genug Anlaß für plumpen Neid bei Kritikern bieten. Es ist wahr, dass weitere Vergünstigungen geradezu aufgedrängt werden, manchmal aus Altruismus, manchmal um des Werbeeffekts willen und manchmal in Aussicht auf konkrete Beeinflussung der Amtsträger.

Der Übergang zwischen legitimer und unrechtmäßiger Vergünstigung und Vorteilsnahme ist fließend. Viele Einflüsse, denen Politiker ausgesetzt sind, bewegen sich in einer Grauzone.

Wenn die Affäre Wulff eines zeigt, dann das diese Grauzone größer ist, als viele geahnt hatten. Sie zeigt auch, dass viele Dinge, die in sich zunächst weder gut noch schlecht sind, je nach Anlaß eine veränderte Bewertung erfahren können. Dass dazu oft genug jedes objektive Kriterium fehlt, wird hier ebenfalls deutlich.

Was man dem Bundespräsidenten als studierten Juristen und ehemals praktizierenden Anwalt vielleicht wirklich anlasten könnte, ist, dass er dieses Hintergrundwissens wegen diese Grauzonen klar erkannt hat (oder hätte erkennen müssen) und allzu leichtfertig ausgenutzt hat. Zur Würde des Amtes gehört untrennbar die Demut des Amtsträgers. Dazu gehört nicht, Vergünstigungen, die einem nicht zustehen, rundweg abzulehnen. Das ist eigentlich selbstverständlich. Besser wäre es, auch bei den rechtmäßigen Vergünstigungen zu überlegen, ob man sie alle nutzen muss. Der kluge Verzicht wäre da manchmal besser, und würde die Grauzone dazwischen ein wenig verkleinern. Kluge Beschränkung seiner selbst war Wulffs Stärke zuletzt nicht.

Das dürfte der Präsident mittlerweile erkannt haben. Dafür hat er schon Ende letzten Jahres um Entschuldigung gebeten und Besserung gelobt. Ob sie ernst gemeint ist, müsste sich gerade jetzt erweisen. Welchen Sinn hat es, in dem Moment, wo jemand wirklich umkehren könnte, seinen Kopf zu fordern?

Wulff hat nichts getan, was nicht andere Politiker, Vorstände und sonstige Prominente in einflussreicher Position auch täten. Das entschuldigt gar nichts, sondern zeigt, wie heuchlerisch das Kesseltreiben gegen das deutsche Staatsoberhaupt ist. Dass Politiker einem allzu undurchschaubaren Geflecht von Lobbyisten und Interessen ausgesetzt sind, ist nicht neu. Das fängt beim Bürgermeister an, und endet beim Bundespräsidenten.

Deshalb äußert sich die Kanzlerin vermutlich recht zurückhaltend in dieser Sache, deshalb sollten einige Oppositionsführer vielleicht in Erwägung ziehen, sich auch mehr zurückzunehmen. Es besteht auch für sie die peinliche Möglichkeit, zur Unzeit am eigenen Wort gemessen zu werden...

Deshalb muss sich die Presse fragen lassen: warum jetzt diese Treibjagd? Warum wird erst jetzt das Geflecht zwischen Lobbyisten, Politikern, Banken und Wirtschaft (und der Medien...?) beleuchtet, obwohl die Problematik seit Jahrzehnten bekannt ist?

Es wäre Aufgabe der Presse, die Verflechtungen rund um die Politik aufzudecken und wirklich Mißstände anzuprangen. Doch genau da herrscht seit langem das große Schweigen. Stattdessen kühlen die Redaktionen ihr Mütchen nun an der Person Christian Wulffs (und seiner Familie), und versuchen sich dadurch den Anschein von Seriosität, Objektivität und Moral zu geben. Was dabei herauskommt, ist Scheinheiligkeit und moralinsaure Heuchelei. Und dass das hohe Gut des echten Journalismus endgültig zu Grabe getragen wird. Und zwar in ein anonymes Urnengrab.

Das ist befremdlich. Das ist gefährlich. Und das ist für ein Land, dass zurecht Stolz auf die Dichter und Denker vergangener Tage sein kann, unsagbar peinlich.

Die Aktionen der Opposition im Parlament sind ebenso durchschaubar. Wo ist der Mut zur Aufklärung, was die außerparlamentarischen Kontakte der eigenen Fraktion und Abgeordneten betrifft?

Alleine deshalb sollte der dauerbeschossene Präsident die Stellung halten und weitermachen - indem er umkehrt, nicht zuletzt im christlichen Sinne des Wortes, und einen neuen Kurs einschlägt. Und deshalb sollte nicht er, sondern die Medien zurücktreten. Zumindest von dieser Form der Meinungsmache. Und zwar schnell!

Das Jahr ist noch lang, und es wird kein leichtes Jahr. Verschwenden wir nicht wertvolle Energien, um Politiker mit Dreck zu bewerfen oder zu gerne im Dreck zu wühlen, den sie hinterlassen. Jeder verdient die Gelegenheit für einen Neuanfang. Und wenn Wulff wirklich begriffen hat, kann er allen Vorzeichen zum Trotz doch noch ein richtig guter Präsident werden. Gerade, weil er Vertrauen zurückgewinnen muss und verschäft unter Beobachtung stehen wird.

"Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein." Das sagt Jesus, als die Ehebrecherin zu ihm geschleppt wird. Er weiss, was folgt: einer nach dem anderen denkt an seine eigenen Sünden und stiehlt sich beschämt davon. Diese Selbstreflexion müsste dringend bei den Medien und den Journalisten einsetzen. Und bei Wulff das, was im Evangelium später folgt: "Geh hin, und sündige nicht mehr!"

Und was mich betrifft: alles andere will ich nicht mehr hören. Danke!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen